Auf Social Media, in Coachings und spirituellen Kreisen wird gerne von „femininer" und „maskuliner" Energie gesprochen. Es klingt nach Balance, nach Ganzheit, nach tiefer Verbindung mit sich selbst. Doch wer genauer hinsieht, erkennt schnell: Diese Begriffe sind keine neutralen Konzepte. Sie sind alte Rollenbilder in neuem Gewand. Sie behaupten Natürlichkeit, wo in Wahrheit patriarchale Muster wiederholt werden. In diesem Blog möchte ich – wissenschaftlich, psychologisch und feministisch fundiert – zeigen, warum die Idee von „weiblicher“ und „männlicher“ Energie problematisch ist. Und was echte, selbstbestimmte Entwicklung bedeuten kann.
Die Vorstellung von „femininer Energie" ist oft verbunden mit Eigenschaften wie Empfänglichkeit, Hingabe, Intuition, Weichheit und Emotionalität. „Maskuline Energie" hingegen wird gleichgesetzt mit Zielstrebigkeit, Klarheit, Struktur, Dominanz, Rationalität. Diese Polarität wirkt auf den ersten Blick ergänzend – zwei Kräfte, die sich ausgleichen. Doch die problematische Botschaft steckt in der Zuordnung: Frauen sollen „weibliche“ Energie verkörpern – und Männer die „männliche“. Ebenfalls sehr problematisch: Es gibt in dieser Vorstellung nur zwei Geschlechter und du musst dich dem zuordnen, welches dir bei der Geburt zugeschrieben wurde.
Was dabei ignoriert wird: Diese Zuschreibungen sind nicht naturgegeben. Sie stammen aus einem kulturellen System, das bestimmte Eigenschaften historisch mit Macht (z. B. Durchsetzungsfähigkeit) und andere mit Unterordnung (z. B. Anpassungsfähigkeit) verknüpft hat. „Feminine“ Energie ist in dieser Logik die, die sich hingibt – „maskuline“ Energie die, die führt. Klingt nach Spiritualität, ist aber faktisch ein romantisiertes Machtverhältnis.
Persönlichkeit ist nicht geschlechtlich festgelegt. Die psychologische Forschung ist hier eindeutig. Eigenschaften wie Empathie, Dominanz, Fürsorglichkeit, Aggressivität oder Intuition sind keine biologisch festgelegten Merkmale von „Frau“ oder „Mann“. Studien wie die Gender Similarities Hypothesis (Hyde, 2005) zeigen, dass Frauen und Männer sich in den meisten psychologischen Dimensionen weit weniger unterscheiden als oft angenommen.
Die Unterschiede, die beobachtet werden, sind oft Ergebnis von Sozialisation, nicht von Biologie. Menschen lernen von klein auf, welche Eigenschaften in ihrer Geschlechterrolle erlaubt oder unerwünscht sind. Jungen werden eher für Durchsetzungsvermögen gelobt, Mädchen für Einfühlsamkeit. Diese Prägungen verfestigen sich und werden später als „natürliche“ Unterschiede fehlinterpretiert.
Auch Sandra Bem zeigte bereits 1974 (1974) mit ihrem Konzept des Androgynitätsmodells, dass Menschen, die sowohl traditionell „weibliche“ als auch „männlich“ konnotierte Eigenschaften in sich integrieren, psychologisch oft stabiler und flexibler sind. Echte Entwicklung heißt also nicht, sich auf „seine feminine Energie zu besinnen“, sondern Zugang zu allen menschlichen Potenzialen zu haben.
Die Idee von komplementären Energien wirkt besonders gefährlich, wenn sie als Naturgesetz verkauft wird. Spirituelle Narrative, die „weibliche“ und „männliche“ Energie als kosmisches Prinzip darstellen, verschleiern die soziale und politische Dimension dieser Zuschreibungen.
Sie tun so, als sei es die „wahre Natur“ der Frau, zu empfangen, zu folgen, sich hinzugeben – und damit auch, weniger zu bestimmen, zu verlangen oder Grenzen zu setzen. Das wird dann nicht mehr als gesellschaftliche Prägung kritisiert, sondern als etwas Essenzielles inszeniert. Aus Rollenbildern werden energetische Wahrheiten – und Kritik wird abgewürgt mit dem Vorwurf, „nicht verbunden“ oder „im Kopf“ zu sein.
Feministisch gesehen ist das hochproblematisch. Denn was als weiblich und männlich gilt, war immer Teil politischer Kämpfe. Die Geschichte der Frauenbewegung zeigt: Frauen mussten sich das Recht, aktiv, klar, dominant, rational oder öffentlich zu sein, hart erkämpfen – gegen genau die Zuschreibungen, die heute als „feminine Energie“ verklärt wiederkehren.
Die Einteilung in „feminine“ und „maskuline“ Energie wirkt nicht nur ideologisch – sie hat auch konkrete psychologische Folgen. Wer glaubt, dass er (oder sie) nur innerhalb eines bestimmten „energetischen“ Spektrums existieren darf, entwickelt innere Konflikte:
Hinzu kommt: Viele Menschen – insbesondere Frauen – erleben das ständige „In-sich-Hineinhören“, ob man gerade genug „in der weiblichen Energie“ sei, als zusätzlichen Leistungsdruck. Aus Selbstverbindung wird Selbstkontrolle. Aus Selbstentwicklung wird Anpassung an ein neues Idealbild.
Was wäre, wenn wir aufhören, Energie zu gendern? Was wäre, wenn wir Menschen nicht mehr sagen würden, wie sie zu sein haben – sondern sie darin unterstützen, sich selbst zu erfahren?
Ein radikal menschlicher Zugang zur Persönlichkeitsentwicklung und Sexualität würde nicht von „weiblicher“ oder „männlicher“ Energie sprechen – sondern von Kontakt, Präsenz, Bedürfnissen, Grenzen, Ausdruck. Er würde Menschen darin bestärken, all ihre Seiten zu erkunden – nicht nur die, die kulturell mit ihrem Geschlecht verknüpft sind.
Feministische Therapie, körperorientierte Ansätze und differenzierte psychologische Begleitung zeigen: Heilung entsteht nicht durch die Rückkehr in eine geschlechtsspezifische Essenz – sondern durch die Befreiung von Zuschreibungen, die nie echt waren.
Die Begriffe „feminine“ und „maskuline“ Energie mögen harmlos klingen – aber sie tragen eine Ideologie in sich, die Menschen reduziert, verunsichert und festhält. Wer echte Freiheit sucht, muss bereit sein, diese Konzepte zu hinterfragen.
Denn Energie hat kein Geschlecht – aber Unterdrückung schon.
Quellen:
Bem, S. L. (1974). The measurement of psychological androgyny. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 42(2), 155–162.
Hyde, J. S. (2005). The gender similarities hypothesis. American Psychologist, 60(6), 581–
Eagly, A. H., & Wood, W. (2012). Social Role Theory. In P. van Lange, A. Kruglanski & E. Higgins (Eds.), Handbook of Theories of Social Psychology.