In meiner Arbeit als Sexualtherapeutin begegnet mir immer wieder dasselbe Phänomen: Viele Menschen, vor allem Frauen, berichten, dass sie ohne Alkohol nicht in der Lage sind, sich beim Sex zu „fallen zu lassen“. Sie greifen auf alkoholische Getränke zurück, um Hemmungen zu überwinden, um „freier“ zu sein und um die ersehnten sexuellen Erlebnisse zu genießen. Doch was steckt eigentlich hinter diesem Verhalten? Warum greifen so viele Menschen, vor allem Frauen, immer wieder zum Glas, wenn es um Sexualität geht? Und was sind die psychologischen, kulturellen und gesellschaftlichen Mechanismen, die diese Dynamik am Leben erhalten?

In diesem Blogbeitrag möchte ich dieses Phänomen aus einer tiefenpsychologischen, therapeutischen und gesellschaftlichen Perspektive beleuchten und darauf eingehen, was es mit uns als Individuen, aber auch als Gesellschaft, macht, wenn Alkohol zur Eintrittskarte für Sexualität wird.

Alkohol als „Lustverstärker“ – Der Mythos der sexuellen Befreiung

Die Vorstellung, dass Alkohol die Hemmungen senkt und die Lust steigert, ist weit verbreitet und tief in der westlichen Kultur verankert. In zahlreichen Filmen, Serien und Werbungen wird uns immer wieder das Bild einer „befreiten“ Frau präsentiert, die ihren Mut mit einem Glas Wein oder einem Cocktail anhebt, um sich zu entspannen und ungeniert ihre sexuellen Bedürfnisse auszuleben. In dieser Erzählung scheint Alkohol das magische Mittel zu sein, um die „wilde“ und „sinnliche“ Seite von uns freizulegen.

Doch wenn wir uns das genauer anschauen, wird schnell klar, dass dieser Mythos nicht die ganze Wahrheit widerspiegelt. Tatsächlich zeigt die Wissenschaft, dass Alkohol in der Realität genau das Gegenteil bewirken kann: Er dämpft unsere Erregung, reduziert die Sensibilität und die Fähigkeit, den eigenen Körper und die sexuelle Reaktion zu spüren. Mit anderen Worten: Alkohol macht es schwerer, den eigenen Körper bewusst zu erleben, was gerade für eine erfüllte Sexualität von entscheidender Bedeutung ist.

Was wir oft als „sexuelle Befreiung“ erleben, ist tatsächlich eine Form der Dissoziation: Der Körper wird weniger spürbar, und wir verlieren den direkten Kontakt zu unserer Lust und zu unseren emotionalen Bedürfnissen. Dies kann kurzfristig eine Erleichterung sein – besonders für Menschen, die mit Scham oder Angst vor sexueller Bewertung kämpfen –, jedoch führt diese Entfremdung langfristig zu einer geringeren sexuellen Zufriedenheit und einer schwächeren Verbindung zu sich selbst und dem Partner.

Die psychologischen Mechanismen hinter dem Griff zum Glas

Wenn wir uns fragen, warum viele Menschen, insbesondere Frauen, auf Alkohol zurückgreifen, um ihre Sexualität zu „befreien“, müssen wir einen Blick auf die psychologischen Mechanismen werfen, die dahinterstecken.

1. Scham und die Angst vor Bewertung

Die Angst, nicht genug zu sein, oder die Vorstellung, den eigenen Körper nicht gut genug zu finden, ist bei vielen Frauen tief verwurzelt. Viele von uns haben früh gelernt, dass Sexualität mit bestimmten Erwartungen und Normen verbunden ist: Wir sollen „sexy“ sein, „bereit“, „offen“ und gleichzeitig „nicht zu fordernd“. Das führt zu einer enormen inneren Spannung, die sich im sexuellen Kontakt verstärken kann.

Alkohol scheint eine schnelle Lösung zu bieten. Er reduziert die schmerzliche Selbstkritik und das Gefühl der Unsicherheit, das viele in intimen Momenten erleben. Doch dieser sogenannte „Mutmacher“ hat seinen Preis. Alkohol ist ein Fluchtmechanismus, der die Symptome einer tiefer liegenden Angst vor Bewertung und Ablehnung nur kurzzeitig betäubt. Langfristig fördert diese Strategie jedoch das Gefühl der Entfremdung vom eigenen Körper und von der eigenen Lust.

2. Der gesellschaftliche Druck: Sexuelle Performance vs. Authentizität

In unserer Gesellschaft wird von Frauen häufig erwartet, dass sie „performen“ – sei es in ihrem Beruf, in ihrer Rolle als Mutter oder in ihrem sexuellen Verhalten. Frauen sollen jederzeit attraktiv, verfügbar und begehrenswert sein, ohne jedoch ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen zu stark zu artikulieren. Diese widersprüchlichen Erwartungen – einerseits die Aufforderung, „wild“ und „offen“ zu sein, andererseits der Druck, „anständig“ und „zurückhaltend“ zu bleiben – schaffen einen enormen inneren Konflikt.

Dieser Konflikt wird besonders dann spürbar, wenn es um den Sex geht. Viele Frauen fühlen sich unter Druck gesetzt, die sexuelle Fantasie des Mannes zu erfüllen und sich dabei zu verlieren – oft ohne sich selbst wirklich zu fragen, was sie selbst im Bett wollen. Alkohol erscheint hier als Lösung, um die „richtige“ Rolle zu spielen – eine Rolle, die oft von patriarchalen Idealen geprägt ist, die Frauen als verfügbare, aber nicht bedürftige sexuelle Objekte darstellen.

3. Der „Lockstoff“ für Intimität – Bindung und Trauma

Ein weiterer psychologischer Aspekt, der das Trinken vor dem Sex erklären kann, ist die Rolle von Bindungserfahrungen und Traumata. Menschen, die in ihrer Kindheit oder Jugend schwierige emotionale Erfahrungen gemacht haben – sei es durch Vernachlässigung, Missbrauch oder emotionale Verwirrung – haben oft Schwierigkeiten, Nähe ohne Angst zu erleben. Alkohol wird dann zu einem Werkzeug, das es erleichtert, emotionale Nähe zuzulassen, ohne sich völlig geöffnet oder verletzlich fühlen zu müssen.

Alkohol bietet die Möglichkeit, Distanz zu schaffen, während man gleichzeitig glaubt, sich auf eine Weise zu verbinden, die sonst unmöglich erscheinen würde. Doch auch hier liegt der Haken: Diese Form der „Intimität“ ist oft oberflächlich und basiert auf der Betäubung von unangenehmen Gefühlen statt auf echtem Vertrauen und aufrichtiger Verbindung.

Der Einfluss von Jugend und frühen Erfahrungen auf die Wahrnehmung von Sexualität

Viele dieser Verhaltensweisen und Einstellungen beginnen bereits in der Jugend. Die Art und Weise, wie wir Sexualität erleben und definieren, wird stark von den ersten sexuellen Erfahrungen geprägt. In dieser Phase werden wir mit den Vorstellungen von Lust, Liebe und Sexualität konfrontiert, die wir durch Medien, Freunde, Familie und gesellschaftliche Normen aufnehmen.

Frauen lernen früh, dass sie in der Sexualität oft nicht erlaubt sind, selbstbewusst und selbstbestimmt zu sein. Stattdessen werden sie darauf konditioniert, sich auf das Wohlbefinden des Partners zu konzentrieren und „für ihn“ zu gefallen. Diese internalisierten Rollenvorstellungen – die „verfügbare Frau“, die „leidenschaftliche, aber nicht zu aufdringliche Frau“ – führen dazu, dass Alkohol als ein Mittel wahrgenommen wird, um sich in diese Rolle zu fügen und gleichzeitig die damit verbundenen Ängste zu betäuben.

Der Jugendwunsch, als „die Wilde“ im Bett wahrgenommen zu werden – die Frau, die sich ohne Hemmungen ihren sexuellen Fantasien hingibt – ist oft ein Produkt dieser konditionierten Vorstellungen. Alkohol wird hier zum Hilfsmittel, um sich die Rolle einer „ungebundenen, selbstbewussten“ Frau anzutrainieren, ohne wirklich zu wissen, was man selbst im Inneren will.

Die Auswirkungen auf die Beziehung und die Intimität

Das Problem, das mit diesem Verhaltensmuster einhergeht, ist, dass es nicht nur die Beziehung zu sich selbst beeinträchtigt, sondern auch die Intimität in der Partnerschaft. Wenn Alkohol zur Eintrittskarte für Sex wird, bedeutet das häufig, dass echte Nähe und authentische Intimität auf der Strecke bleiben. Der Alkohol sorgt dafür, dass wir uns von uns selbst und unserem Partner distanzieren – der echte Kontakt bleibt aus.

Paartherapeutisch ist es ein häufiges Thema, dass Paare über ihre sexuellen Bedürfnisse sprechen, aber oft nicht in der Lage sind, diese ohne äußere Hilfe (wie Alkohol) auszuleben. Die Wahrnehmung des eigenen Körpers und die Fähigkeit, sich verletzlich und „nüchtern“ zu zeigen, sind stark vermindert. In der Folge bleibt die Partnerschaft oberflächlich – sexuelle Begegnungen werden eher als Pflicht oder Performance denn als Ausdruck von gegenseitigem Begehren und Nähe erlebt.

„Mit Alkohol bin ich der Mann, den sie will“ – Die andere Seite der Geschichte

Auch Männer berichten in der Therapie häufig, dass sie vor sexuellen Begegnungen Alkohol konsumieren – nicht nur aus Genuss, sondern gezielt, um sich sicherer zu fühlen. Viele sagen sinngemäß: „Mit einem Drink bin ich lockerer, selbstbewusster – einfach mehr der Mann, den sie sich wünscht.“ Hinter dieser Aussage verbirgt sich ein komplexes Geflecht aus Leistungsdruck, Rollenerwartungen und tiefer Unsicherheit.

In unserer Gesellschaft wird Männlichkeit immer noch stark über sexuelle Leistungsfähigkeit und Dominanz definiert. Der Mann soll wissen, was er tut. Er soll führen, begehrenswert sein, eine Erektion haben, sie befriedigen – und das alles bitte mühelos. Dieser Erwartungsdruck erzeugt enorme innere Anspannung. Alkohol wirkt hier scheinbar wie ein soziales Gleitmittel: Er senkt die Hemmung, über Gefühle zu sprechen oder Unsicherheiten zuzulassen, und gibt das Gefühl, „lockerer“ zu sein – obwohl eigentlich eine tiefe Angst vor Versagen mitschwingt.

Psychologisch betrachtet geht es auch bei Männern häufig um das Aushalten von Verletzlichkeit. Sex bedeutet nicht nur Lust und Nähe, sondern auch das Zeigen des eigenen Körpers, das Zulassen von Intimität und Unsicherheiten. Für viele Männer ist das ungewohnt – sie wurden oft nicht darin bestärkt, ihre weiche, unsichere oder emotionale Seite zu zeigen. Alkohol wird dann zur Brücke: Er lässt für einen Moment vergessen, wie verletzlich echter sexueller Kontakt eigentlich ist.

Und ähnlich wie bei Frauen ist das ein Trugschluss: Denn wenn der Zugang zur Sexualität immer wieder über Alkohol läuft, bleibt die Verbindung oberflächlich. Die „Rolle des souveränen Mannes“ wird gespielt – aber die echte Begegnung, in der beide auch mit Unsicherheit präsent sein dürfen, bleibt aus.

In Paar- und Sexualtherapie arbeiten wir deshalb oft mit beiden Partnern daran, sich gegenseitig nüchtern zu begegnen – innerlich wie äußerlich. Die Idee ist nicht, perfekt oder übermäßig selbstbewusst zu sein, sondern ehrlich, neugierig und bereit, sich zu zeigen – mit allem, was da ist.

Was können wir also tun? – Wege zu einer nüchternen Sexualität

Die gute Nachricht ist: Es gibt Wege, wieder in Kontakt mit der eigenen Sexualität zu kommen – ohne den Alkohol als „Hilfsmittel“. Der erste Schritt ist, die eigene Wahrnehmung von Sexualität zu hinterfragen und sich bewusst zu machen, warum wir glauben, dass wir ohne Alkohol nicht „genug“ sind.

1. Achtsamkeit und Körperarbeit

Achtsamkeitstraining und Körperarbeit sind therapeutische Methoden, die helfen können, sich wieder mit dem eigenen Körper und den eigenen Bedürfnissen zu verbinden. Achtsame Selbstberührung, Embodiment und die Rückkehr zu einem bewussten Erleben des eigenen Körpers ohne die Betäubung durch Alkohol können helfen, eine authentische und selbstbestimmte Sexualität zu entwickeln.

2. Kommunikation und Offenheit

Ein weiterer wichtiger Schritt ist die offene Kommunikation mit dem Partner über sexuelle Wünsche, Ängste und Grenzen. Paare sollten lernen, ohne den Alkohol als Ausrede für die Nichtäußerung ihrer Bedürfnisse zu sprechen. Dies erfordert Mut und Vertrauen, aber es ist wichtig, Bedürfnisse zu benennen. Dies erfordert Mut und Vertrauen, aber es istder einzige Weg zu echter, tiefer Intimität.

3. Therapeutische Begleitung

Wenn diese Muster sehr tief verankert sind – z. B. durch frühe traumatische Erfahrungen oder langanhaltende Konditionierungen –, kann es sinnvoll sein, sich therapeutisch begleiten zu lassen. Sexualtherapie, Körperpsychotherapie oder Paartherapie können helfen, alte Muster zu erkennen und zu verändern.

Nüchtern sein – nicht nur körperlich, sondern auch emotional

Sexuelle Selbstbestimmung beginnt dort, wo wir uns trauen, ohne Betäubung, ohne Maske, ohne Erwartungsdruck zu begegnen – uns selbst und unserem Gegenüber. Wenn wir uns die Frage stellen, warum wir nur mit Alkohol so sein können, wie wir glauben, sein zu müssen, dann ist das der erste Schritt zu einer ehrlichen, befreienden und lebendigen Sexualität.

Vielleicht liegt die wahre sexuelle Freiheit nicht in dem Glas Wein vor dem Date, sondern in der Entscheidung, nüchtern und echt zu erscheinen – mit allem, was wir sind, und allem, was wir (noch) nicht zu sein wagen.

Ich habe dir ein paar Fragen aus meiner Therapie mitgebracht – als Einladung, dich diesem Thema auf deine Weise zu nähern. Vielleicht ist das ein erster Einstieg, um deinen eigenen Umgang mit Nähe, Lust und Alkohol zu hinterfragen. Nimm dir Zeit. Und vor allem: Sei freundlich mit dir.

Wenn du tiefer eintauchen willst …

Wenn du beim Lesen gemerkt hast: Ja, irgendwie kenne ich das – dieses Bedürfnis, mich vorher zu lockern, etwas trinken zu müssen, um beim Sex „ich selbst“ oder „gut genug“ zu sein, dann lade ich dich ein, weiterzuforschen. In meiner aktuellen Podcastfolge „Sex mit Alkohol – Nüchtern nicht mutig genug?“ spreche ich ausführlich über genau dieses Thema:
Warum wir glauben, Alkohol zu brauchen, um begehrenswert oder „gut im Bett“ zu sein, welche psychischen Dynamiken dahinterstehen – und was es bedeuten kann, sich langsam von dieser Vorstellung zu lösen.

Und wenn du nicht nur hören, sondern auch in einem geschützten Raum an deiner Sexualität arbeiten möchtest: In meiner Veranstaltung „Wie finde ich heraus, was ich im Bett wirklich will?“ erforschen wir genau diese Fragen. Ohne Druck. Ohne Rollenzwang. Dafür mit Klarheit, Tiefe und Selbstbestimmung. Denn echte Lust beginnt oft erst da, wo wir aufhören, jemand sein zu wollen, der wir gar nicht sind.

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